Finnland: Nachts im Leuchtturm

Sauna, Schnee und Wälder? Das ist nur eine Seite Finnlands. Im Sommer wandelt sich das Land zum Ziel für Meeresliebhaber. Eine Reise entlang der Südküste zeigt, wie sehr das Wasser den Lebensstil der Finnen prägt.

Neue Westfälische, 24. August 2013

Der Leuchtturm von Kylmäpihlaj
Einsame Insel mit Hotel: Im Leuchtturm von Kylmäpihlaj schliefen früher Seeleute, heute kommen Besucher auf das abgelegene Felsplateau.
Beim Segelraffen müssen alle mit anpacken. Ein paarmal kräftig ziehen am rauen Schiffstau, dann sind die weißen Segel über die drei hölzernen Masten der „Linden“ gespannt, einem alten Schoner. Der Wind bläht die Tücher auf. An der stürmischen Küste Helsinkis haben Segler leichtes Spiel. Kapitän Tom sieht aus, wie ein Seemann auszusehen hat: gegerbte Haut, Vollbart. Er war früher Frachtkapitän, dann Pilot in Hongkong, bevor er das Ruder der „Linden“ übernahm. „Hier zu sein, draußen – das ist das Schönste“, sagt er.

Der Kapitän nimmt die lange Runde, einmal um Suomenlinna herum. Die Inselgruppe beherbergt ein altes Marinefort. In der Ferne werden die Mauern sichtbar, die kurz über der Brandung beginnen – so zusammengesetzt, dass die Natursteine genau ineinanderpassen und auch ohne Mörtel halten würden. In einem Teil des Forts trainieren Kadetten, der andere ist ein steinernes Zeugnis des Einflusses, den das Meer auf Finnland hat. Hier findet sich ein Dock, in dem Segelschiffe restauriert werden. Die Schweden bauten es im Krieg gegen Russland, mit ihrer Unabhängigkeit übernahmen es schließlich die Finnen.

Nicht nur zu Kriegszeiten hat die See das Leben in Finnland bestimmt – jedenfalls an der Küste, fernab von Lappland. Hier im Süden räumt ein Sommerurlaub mit Klischees auf: die Finnen als Freaks am Rande Europas, die sich ausziehen, in einer siedend heißen Holzhütte selbst matern, um sich zum Abschluss des masochistischen Treibens im Schnee zu wälzen? Das sind sie nicht. Nicht nur.

Pastellfarbenes Rauma

Die farbenfrohe Küstenstadt Rauma
Farbenfrohe Küstenstadt: Rauma ist gekennzeichnet durch seine pastellfarbenen Holzfassaden – die finden sich sogar am Stadtbrunnen.
Schönstes Beispiel dafür ist das Treiben in Rauma, einer uralten Stadt mit einem Kern aus Holzhäusern. Der Weg durchs Stadtzentrum führt an den pastellfarbenen Fassaden vorbei, in Gelb, Grün, Rosa. 1682 war Rauma zuletzt durch einen Stadtbrand verwüstet worden. Doch die stolzen Bürger bauten ihre Heimat wieder auf – seitdem stehen die historischen Bauten und gewähren dem Besucher einen Blick in die Vergangenheit.

Besonders lebendig ist die Geschichte in einem großen Holzhaus nahe der Stadtkirche. Kerttu Arvo greift nach den kleinen Holzstäben, die neben ihr liegen. Die sogenannten Klöppel sehen aus wie große Dauerlutscher, am unteren Ende sind Leinenfäden aufgewickelt. Die 74-Jährige wirft sie zwischen den Händen hin und her, spannt die Fäden, greift nach einem neuen Klöppel und wirft einen anderen ab. Sie stellt Spitze her – die Ziermuster, die am Rande von Deckchen und Kleidern befestigt sind. Was in der Textilindustrie längst Maschinen erledigen, ist in Rauma ein Handwerk, das wohl so alt ist wie die Häuser.

Klöpplerin Kerttu Arvo
Klöppeln für die Tradition: Kerttu Arvo stellt seit über 40 Jahren Spitzen her – in Rauma ist sie damit in guter Gesellschaft.
Einmal im Jahr feiert die Stadt diese Tradition: Es ist Spitzenwoche. Das Ereignis zieht jedes Mal etliche Besucher an. Dann zeigen die Spitzenklöppler ihr liebstes Hobby. Kerttu Arvo beschäftigt sich seit 42 Jahren mit den filigranen Mustern, gleich nachdem sie in die Stadt gezogen war, fing sie an. „Beim Klöppeln vergesse ich alles andere“, sagt sie. Auch ein Lieblingsmotiv hat sie, den „Double Star“ – je filigraner das Muster, desto besser. An einer kleinen Decke mit Spitzenmotiv sitzt sie schon einmal zwei Wochen. Das Hobby fordert Ausdauer, ist aber ungebrochen beliebt in der Küstenstadt – auch immer mehr Männer greifen zu den Klöppeln.

Mit der Fähre in die Einsamkeit

Aus der Atmosphäre der Stadt ist es nicht weit, um in die Abgeschiedenheit des dünn besiedelten Finnlands einzutauchen – indem man eine Nacht fast so einsam lebt wie ein Leuchtturmwärter. Mit der Fähre geht es auf Kylmäpihlaja – die westlichste Insel des Archipels vor Rauma, gerade mal so groß wie gut zehn Fußballfelder, letzte Station vor der Meerespassage nach Schweden.

In dem Leuchtturm, der vor über 60 Jahren auf das Felsplateau gesetzt wurde, übernachteten bis Anfang des Jahrtausends Besatzungsmitglieder von Schleppern, die große Schiffe durch die schmalen Rinnen des Archipels brachten. Aufstieg durch das enge Treppenhaus des Turms. Zehn Stockwerke, direkt unter dem Leuchtfeuer, unablässig pfeifender Wind. Wie versprenkelt der Archipel ist, lässt sich am besten von hier aus sehen. Die Eiszeit hat ihn geformt. Kylmäpihlaja streckt seine felsigen Arme ins Meer. Rostfarbene Moose, Gräser und Büsche überziehen die Steine.

Der Turm ist heute ein Hotel – in der Ausstattung so karg, wie die Schlepperkajüten wohl damals schon waren, dafür kann man aus dem Fenster praktisch nach den Küstenseeschwalben greifen. Sie nisten auf Kylmäpihlaja, darum sind weite Teile der Insel für Besucher gesperrt – das hohe Kreischen der Vögel wirkt wie ein Warnruf.

Erst abends kommen sie zur Ruhe. Wer das Licht des Turms aufblitzen sehen will, muss bis 23 Uhr warten. Nur zögerlich wird es dann dunkel, und selbst in der tiefsten Nacht schimmert stets etwas Licht über der Insel. Sommernächte hoch im Norden sind kurz.